Prof. Dr. Gero Tenderich, Herzchirurg und Chief Medical Officer bei der Cardisio GmbH und Impulsgeber für die neue Technologie erklärt im Interview das Prinzip der Cardisiographie sowie die Vorteile für den Patienten, den Arzt und die kardiologische Versorgung.
Medizinischer Fortschritt basiert heute fast immer auf der Weiterentwicklung bestehender Technologien. Disruptive Innovationen, also solche, die Diagnostik oder Therapie von Grund auf verändern, dringen selten auf den Markt. Die Cardisiographie ist eine dieser Innovationen. Mit geringem zeitlichem, technologischem und finanziellem Aufwand ermöglicht Cardisio eine nicht-invasive und exakte ischämische Risikostratifizierung im Ruhezustand – und zwar bevor eine Symptomatik auftritt. Entwickelt wurde die Cardisiographie von Medizinern, Informatikern, Biosignalexperten, Mathematikern, Physikern und Elektroingenieuren.
Was macht Cardisio anders als bisherige, nicht-invasive Diagnoseverfahren zur Bestimmung von Herzkrankheiten?
Neu an der Methode ist nicht zuletzt der dahinterliegende Ansatz. Mit der Cardisiographie suchen wir nicht primär nach Ursachen für eine bereits bestehende Symptomatik. Vielmehr identifizieren wir das Risiko einer Minderdurchblutung des Herzmuskels bei vermeintlich gesunden Menschen. – und zwar bereits weit bevor überhaupt Symptome auftreten. Wir warten also nicht erst auf die Angina Pectoris, um dann gezielt nach Stenosen zu fahnden. Wir erkennen eine Minderdurchblutung des Herzens weit bevor es zu Problemen oder schlimmstenfalls zu einem Herzinfarkt kommt, so dass präventiv eine weitere Diagnostik und gegebenenfalls Therapie eingeleitet werden kann. Dieses frühzeitige Reagieren kann die Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessern, weil größere Eingriffe und dauerhafte Schädigungen unter Umständen vermieden werden können. Erkennt die Cardisiographie eine Minderdurchblutung, erfolgt eine weitere Untersuchung und Lokalisation beim Kardiologen bis hin zur finalen Abklärung und einer invasiven Behandlung im Katheterlabor.
Die Cardisiographie ist also ein Screening-Test, ein Frühwarnsystem für die Herzgesundheit und damit ein hochpräziser Indikator und Initiator für die eine weitere kardiologische Diagnostik. Wir ersetzen also keineswegs ein bestehendes Verfahren, sondern wir ergänzen das diagnostische Spektrum um die Möglichkeit der Früherkennung. Die Cardisiographie ist kostengünstig, untersucherunabhängig und die Messung erfolgt im Ruhezustand – nach einem solchen Ansatz ist in der Kardiologie lange gesucht worden.
Was genau misst die Cardisiographie?
Die Cardisiographie vermisst hochsensibel das elektrische Feld des Herzens. Die Auswertung erfolgt über eine computerbasierte infinitesimale, dreidimensionale Verrechnung der Erregungsabläufe des Säugerherzens. Herzstück des Verfahrens ist ein Algorithmus, der in wenigen Minuten Messzeit Millionen Rechenoperationen durchführt und die Erregungsabläufe des Herzens mit Hilfe von neuronalen Netzen analysiert. Der Algorithmus setzt die Erregungsabläufe in Korrelation zur intrinsischen Blutversorgung sowie der spezifischen räumlichen Ausrichtung des Myokards im Dipolfeld als Funktion der Zeit ausgehend von einem definierten Punkt.
Wie genau läuft eine Cardisiographie ab?
Dem Patienten werden fünf Elektroden nach einem einfach vorgegebenen Schema auf der Haut befestigt, nach einigen Minuten erhält der Arzt eine Auswertung. Diese Auswertung zeigt auf den ersten Blick und unmissverständlich auf, ob eine Minderdurchblutung vorliegt, die in der weiteren kardiologischen Diagnostik abgeklärt werden muss. Eine Minderdurchblutung kann neben einer Koronarerkrankung noch weitere Ursachen haben. Unabhängig von der Grundursache kann die Kardisiographie eine Hypoperfusion mit hoher Empfindlichkeit und Spezifität nachweisen. In einer Studie, die 2018 abgeschlossen und später im Journal for Electrocardiology, Cardisiography veröffentlicht wurde, fand Cardisiography eine Hypoperfusion mit einer Sensitivität von über 95% und einer Spezifität von über 75%. Nach Verbesserungen der KI-Algorithmen wurde 2019 eine neue Studie abgeschlossen, die Folgendes zeigt: 95,3% Sensitivität und 90,3% Spezifität.
Damit zählt die Cardisiographie schon jetzt zu den exaktesten kardiologischen Diagnoseverfahren und wir nähern uns damit klar dem goldenen Standard, der Koronarangiographie. Da der Algorithmus ständig weiterentwickelt wird und mit jedem neuen Datensatz dazu lernt, wird sich die ohnehin schon bemerkenswerte Genauigkeit kontinuierlich verbessern. Aufgrund der Einfachheit des Verfahrens eignet sich Cardisio perfekt für den Einsatz in Hausarztpraxen und bei regelmäßigen Check-ups.
Warum gab es das Verfahren bisher nicht und wie kommt man darauf, eine Cardisiographie zu erfinden?
Die Idee zur Cardisiographie entspringt den Prinzipien der Elektrophysiologie. Es gab in der Vergangenheit bereits vielfache Ansätze, die elektrische Erregungsausbreitung im mehrdimensionalen Raum zu analysieren. Aufgrund der hohen Komplexität ist es für einen Menschen jedoch kaum möglich, die Zusammenhänge zu erkennen, zu verstehen und die dafür erforderliche Analyse-/Rechenleistung zu erbringen. Darum ist ein derartiger Ansatz bislang nur Theorie geblieben.
Es brauchte die Weiterentwicklung der Rechenleistung, um den theoretischen Ansatz in die Praxis zu bringen. Als wir uns Mitte 2015 zusammengetan und Ideen zur Umsetzung auf Basis von künstlicher Intelligenz validiert haben, ist die Idee für Cardisio geboren. Die Cardisiographie beruht auf einem Algorithmus, der die unterschiedlichen Messwerte auswertet und vergleicht. Die Messdaten fließen in ein neuronales Netzwerk, das kontinuierlich aktualisiert wird und optimiert wird. Dank der hohen Rechenleistung können wir heute einen Algorithmus mit den notwendigen Daten füttern und trainieren, damit er die Berechnungen korrekt durchführen kann. Nach fast vier Jahren Forschung und Entwicklung wurde die Cardisiographie dann als Medizinprodukt zugelassen.
Neben der Rechenleistung gehört aber auch ein persönliches Interesse an dem Thema zum Erfolg. Seit Beginn meines Medizinstudiums habe ich mich der Physiologie des Herzens verschrieben und in dem Bereich promoviert. Gerade die Elektrophysiologie war immer ein Steckenpferd von mir. Ich war schon relativ früh nach meinem Studium davon überzeugt, dass Ischämien auch ohne Belastung und vor allem nicht-invasiv gemessen werden können. In meiner 30-jährigen Laufbahn als Herzchirurg habe ich sehr viel auf dem Gebiet geforscht und zahlreiche Doktorarbeiten betreut.
Kurz:
Um eine disruptive Innovation auf den Markt zu bringen, braucht es eine zündende Idee, den richtigen Zeitpunkt, den technischen Fortschritt, den Willen und die Ausdauer, die Umsetzung der Idee konsequent zu verfolgen, und nicht zuletzt Befürworter und das immer nötige Glück.